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Was die Geschichte des Kin- mehr! ... Eines unserer Ergebnisse:
des anbetrifft, gibt es kontro- Kinder sind heute – wie im Mit-
verse Sichtweisen: telalter – kleine Erwachsene ... Der
Begriff ´erwachsen` macht schon
Philippe Aries (1978): bald keinen Sinn mehr.”
Das Kind war in der traditionellen
Gesellschaft glücklich, weil es spä- Kindheit heute im Vergleich
testens ab 7 Jahre in die Erwachse- zu „früher”
nenwelt integriert war. Erst ab dem ist digitale Kindheit: Nicht ein
15./16.Jh. hat man die „Kindheit” direktes Gegenüber sagt mir etwas,
erfunden. sondern das Vermitteltsein ist die
(Neil Postman behauptet, dieser Botschaft
Prozess findet jetzt umgekehrt ist pädagogische Kindheit: Für
wieder statt: Verlust der Kindheit.) die Erwachsenen ist das Kind ir-
gendwie ein pädagogisches Ob-
Lloyd deMause (1980): jekt, d.h. sie verhalten sich nicht
Die Geschichte der Kindheit ist mehr „spontan”. Es entsteht eine
durch eine zunehmende Verbesse- „pädagogische Welt".
rung der Kinderfürsorge gekenn- ist Schulkindheit: vorgegebene
zeichnet. Dieser evolutionistische Inhalte, Zeitabläufe und Kontak-
Standpunkt kennt sechs Stufen: te (z.B. gleichaltrige Klassen, die
1. Allgemeine Akzeptanz des Kin- kleine Unterschiede zwischen den
dermordes (bis zum 4.Jh. n.Chr.) Kindern zu großen machen) und
2. Weggabe von Kindern, z.B. an Einfluss der Lehrer („fremde Men-
Säugammen, als Diener (bis zum schen” verbringen mehr Zeit mit
13.Jh.) den Kindern als die Eltern).
3. Ambivalenz in der Einstellung ist Zukunftskindheit: auf „mor-
zu Kindern (bis zum 17.Jh.) gen” bezogen: Ferien, Abitur, auf
4. Intrusion, d.h. ein Bemühen Maßstäbe, die nicht heute gelten,
der Eltern sich in das Kind zu ver- sondern irgendeinmal
setzen und es zu verstehen (18.Jh.) ist Stadtkindheit: Verbraucher-,
5. Sozialisation (bis Mitte 20.Jh.) Verkehrsteilnehmer-,...-kind, statt
6. Unterstützung (jetzt) unmittelbare Lebensherausforde-
rungen bzw. Abenteuer
Aktuell: Klaus Hurrelmann: ist Kinder-Kindheit: Kinder ver-
„Die Jugendzeit endet gar nicht bringen die meiste Zeit mit Kin-
mehr” (Mainpost Februar 2002) dern, und andere Kinder werden
„Wir haben die Lage im Jahr zu Vorbildern.
1900, 1950 und 2000 untersucht. ist nicht mehr Kleinfamilien-
Das Muster Kindheit, Jugend, Er- kindheit
wachsenenzeit als klar abgegrenzte ist ohne Generationskonflikte:
Bereiche haben wir zwar noch in Erwachsene sind weder Feinde
unseren Köpfen, aber die Wirk- noch Freunde, sondern weitere
lichkeit sieht längst anders aus: Faktoren in einer komplizierten
Die Kindheit wird immer kürzer, Welt.
sie beträgt fast nur noch die ersten (Gedanken nach Hartmut von
zehn Jahre. Die Pubertät ist seit Hentig in Aries, S.7ff)
1900 um zwei Jahre nach vorne
gerückt und das Jugendalter mit all
seinen Turbulenzen, Umbrüchen,
auch Störungen beginnt so früh
wie nie zuvor. Aber es endet nicht
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